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PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Deutsches FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern, LMU Klinikum, München
FAQs
Elterninput
Pflege- und Adoptivmutter GM:
Eine Diagnostik ist bei Verdacht auf FASD unbedingt notwendig, da hier eine oder keine Diagnose für alle Beteiligten hilfreich sein können. Der Alltag kann bei einer Diagnose die unter den Oberbegriff FASD fällt anders, liebevoll strukturiert, gestaltet werden. Als Erziehender kann man den Erziehungsalltag besser gestalten und zweifelt nicht an seinen Fähigkeiten. Wichtig ist daran zu denken, dass gerade bei Adoptiv- und Pflegekindern es eine Diagnose für drei ist.
Für die Adoptiv- und Pflegeeltern – sie können andere Wege im Alltag gehen, sollten aber nicht von vorne herein das Kind nur als behindert sehen, sondern auch Mut haben, die Fähigkeiten des Menschen mit FASD zu stärken die überaus positiv sind.
Für den Menschen mit FASD bringt die Diagnostik Klarheit, warum er anders ist, warum er sich so anstrengen muss, um seinen Alltag geregelt zu bekommen. Schön wäre es, wenn die Diagnose dann akzeptiert wird und er Hilfe annehmen kann (alle Phasen durchlaufen – Spiralmodell von Frau Barbara Schuchert).
Für die leiblichen Eltern kann eine Diagnose stigmatisierend sein, daher ist hier ein behutsamer Umgang mit der Mutter ohne Schuldzuweisung von Nöten.
Pflegeschwester SH:
Eine Diagnostik hilft zu verstehen, was mit dem Geschwisterkind oder Pflege-Geschwisterkind los ist, warum es sich verhält, wie es sich verhält. Sie vereinfacht das Alltagsleben, weil durch eine Diagnose ein Grundverständnis bei allen Beteiligten geweckt wird. Das mildert Überforderungszustände und Erwartungshaltungen ab. Es wird beispielsweise nicht mehr grundsätzlich durch die Eltern oder Erziehenden erwartet, dass das Kind mit Diagnose eine normale Schulform besucht und diese problemlos durchläuft. Dadurch, dass diese Erwartungen durchbrochen werden, erfährt das Kind mehr Freiraum in seiner (schulischen) Entfaltung und erfährt weniger Druck. Das führt zu weniger Stress im Allgemeinen, in der Schule, in der Familie. Eine Diagnose kann sich somit positiv auf alle Beteiligten auswirken.
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Dr. med. Dorothee Veer, SPZ Meppen, Krankenhaus Ludmillenstift, Meppen
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Elterninput
Pflege- und Adoptivmutter KL:
Bei Säuglingen und Kleinkindern kann bei Schlafproblemen Pucken helfen, bei Säuglingen noch mit einer Stoffwindel, später dann mit einem großen Handtuch oder einer Decke. Dafür das Kind auf den Rücken legen, die Arme seitlich an den Körper, und dann das Tuch bzw. die Decke fest um das Kind wickeln. Das Ende des Tuches/der Decke sollte dabei unter dem Körper des Kindes liegen. Damit wird verhindert, dass sich das Kind durch ständiges Bewegen der Arme und Beine selbst am (Ein)Schlafen hindert. Wenn das Kind größer ist, kann ein Schlafsack oder eine schwere Decke das Ein- und/oder Durchschlafen unterstützen.
Außerdem sollte die Schlafumgebung des Kindes immer reizarm und kühl sein: verdunkelte Räume, möglichst auch kein Nachtlicht, nach dem Säuglingsalter auch keine offenen Regale (die oft dazu führen, dass das Kind immer wieder aufsteht, weil der Inhalt ja so interessant ist), wenig Bilder an den Wänden etc. Oft muss man einfach ausprobieren, was dem Kind hilft. Manche mögen auch leise Musik oder ein Hörspiel, andere kuscheln gern beim Einschlafen, wieder andere (z.B. meine 3) wollen einfach ihre Ruhe haben.
Für alle wichtig sind Rituale: Wir haben seit 21 Jahren (seit unsere Älteste als Säugling zu uns kam) den gleichen abendlichen Ablauf – modifiziert an das jeweilige Entwicklungsalter der Kinder: immer etwa zur gleichen Zeit Abendessen, dann noch 10 min spielen, dann geht es nach oben, duschen, Schlafanzüge anziehen, Zähne putzen und ab ins Bett (im Säuglings- und Kleinkindalter hatten unsere Kids jedes ein eigenes Schlaflied, dass beim Singen wie ein Schalter gewirkt und die Kinder beruhigt hat). Die Großen dürfen noch einige Zeit lesen, das Licht wird immer zur gleichen Zeit ausgemacht. Und dann ist Ruhe… Diese Verlässlichkeit des Ablaufs ist richtig wichtig, weil für die Kids vorhersehbar.
Und noch etwas für die Eltern von Bettnässern: wichtig ist nicht, dass das Kind nachts trocken ist, sondern dass das Kind nachts schläft! Kinder mit FASD haben nun mal eine Beeinträchtigung und oft ist auch die Wahrnehmung gestört. Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass auch ältere Kinder nachts eine Windel tragen, wenn dadurch der Schlaf (auch der Bezugspersonen) gewährleistet ist. Ab 3 Jahren bezahlt die Krankenkasse die Windeln, wenn vom Kinderarzt eine Verordnung vorliegt. Und nein: dafür braucht man keinen Pflegegrad. Meine Kids waren übrigens mit 15, 10 und 11 Jahren nachts trocken, ganz ohne Stress und Training, sondern einfach, weil sie in diesem Alter ihre Blase auch nachts kontrollieren konnten.
Pflege- und Adoptivmutter GM:
Schlaf ist ganz wichtig. Sollte der Mensch mit FASD Schlafstörungen (sowohl Einschlaf-, wie auch Durchschlafstörungen) zeigen, ist eine genaue Überprüfung in einem altersentsprechenden Schlaflabor angezeigt. Häufig ist mit einer medikamentösen Therapie dem Menschen mit FASD geholfen. Auch diese haben einen Leidensdruck nicht schlafen zu können und sind nach einer oder mehreren schlaflosen Nächten überreizt.
Pflegeschwester SH:
Schlaf ist meiner Erfahrung nach bei meinen Pflegegeschwistern sehr individuell. Ein Kind nutzt sein Tablet dazu, Kinderhörspiele zum Einschlafen zu hören. Ein anderes wiederum darf am besten weder Tablet noch Handy noch irgendwelche Lärm- oder Lichtquellen zum Einschlafen in der Nähe haben, sonst kommt es nicht in den Schlaf. Ein drittes Kind wiederum hat einen tiefen und festen Schlaf, sobald es einmal schläft – bis dahin dauert es aber. Auch Melatonin hat hier nicht geholfen, eher gegenteilige Wirkung gehabt, weil das Kind nach Einnahme mental gegen die Wirkung ankämpfte. Das Kind erfährt außerdem nächtliche Hungerattacken, durchforstet die Küche, isst dann allein (obgleich gemeinsames Abendessen angeboten wird) und schläft meist erst nach 2 Uhr ein. Bei früherem Einschlafen, z.B. ab 22 Uhr, ist es oft schon ab 4 Uhr morgens wach.
Im Säuglingsalter bis zum dritten Lebensjahr hat ein Kind fast durchgehend geschlafen. So viel, dass eben dieses zeitintensive Schlafpensum sehr auffällig war.
Ein anderes Kind brauchte besondere Enge, drapierte stets vor dem Schlafengehen sämtliche Kissen, Kuscheltiere und alles, was es fand, so eng um sich herum, dass es sich selbst kaum noch im Bett drehen konnte.
Ich empfehle, die Schlafgewohnheiten individuell zu beobachten und das Wohlfühlen zu fördern. Auch wenn es nicht „normal“ erscheint, erspart es viel Stress, wenn man sich nicht über die nächtliche Kühlschrankplünderei aufregt, sondern stattdessen – in unserem Fall – eine Schale Cocktailtomaten bereitstellt, damit das Kind auch etwas findet, was es mag, um nach dem Essen ruhig schlafen zu können. Sonst tigert es eine Stunde länger umher und durchforstet noch mehr Schränke, und darauf folgt der Stress am nächsten Morgen.
Bei Lichtwunsch oder Lichtempfindlichkeit helfen bereits Kleinigkeiten wie Stecker oder Nachtlicht, oder auch eine geschlossene Tür und heruntergelassene Rolläden, je nach Kind. Nicht darauf bestehen, dass das Licht an oder ausbleibt, sondern dem Kind (zumindest zum Einschlafen) seine Sicherheit geben und es so handhaben, wie das Kind am besten in den Schlaf findet.
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Pflege und Adoptivmutter GM:
Menschen mit FASD können lernen, benötigen nur Ansprache über mehrere Kanäle und die Ansprache mehrerer Sinne. Zahlen kann man z.B. malen, springen, nachgehen, singen, klatschen, gebärden etc. Trotz alle dem kann erlerntes vergessen werden. Dieses kann auch nach Jahren passieren, z.B. Zähneputzen: morgens als 17-jährige noch gekonnt, abends nicht mal mehr die eigene Zahnbürste erkannt. Hier Geduld bewahren und den Lerninhalt neu vermitteln.
Pflegeschwester SH:
Da Geschwisterkinder im Regelfall keinen Erziehungsauftrag haben, können sie das Lernen des Kindes mit FASD entspannter betrachten als ihre Eltern. Das Kind mit FASD benötigt mehr Zeit, um einen Sachverhalt zu verstehen und zu verinnerlichen. Der Erklärende muss wissen, dass auch scheinbar Verinnerlichtes plötzlich nicht mehr abrufbar ist. Ein typisches Verhalten, mit welchem Geschwisterkinder oft entspannter umgehen können als Eltern, ist das wiederholte Fragen. Eine Frage wird zehn oder zwanzig Mal am Tag gestellt, diskutiert, beantwortet – und diese eine Frage beschäftigt das Kind mit FASD so sehr, dass sich das Ganze über Tage, Wochen und Monate wiederholt. Hier hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass das Kind nicht absichtlich nervt, sondern sich intensiv mit dem für sich wichtigen Thema beschäftigt. Wenn es nach der x-ten Wiederholung der Antwort mal gar nicht mehr geht, hilft zurückfragen: „Was glaubst du, warum das so ist?“ „Weißt du noch, was wir darüber beim letzten Mal gesagt haben? Erzähl doch noch mal…“
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Lina Schwerg M. Sc. Psych., FASD Fachzentrum, Evangelischer Verein Sonnenhof, Berlin
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Pflege und Adoptivmutter KL:
Meine Erfahrung als Mutter ist, dass als Strukturierung im Alltag, gerade beim Anziehen, eine Fotostrecke hilfreich sein kann. Man fotografiert das Kind als erstes vollständig bekleidet, dann jedes Mal, wenn ein Kleidungsstück ausgezogen wurde, bis hin zur Unterhose. Diese Fotos ausdrucken, laminieren und zusammenheften, am besten mit Ringen. So sieht das Kind sich selbst und erkennt: ich muss jetzt mein Shirt ausziehen usw. Zum Anziehen wird dann einfach von der anderen Seite geblättert. Und noch ein Tipp: die Kleidung für den nächsten Tag schon am Abend vorher aussuchen und in der Reihenfolge des Anziehens bereitlegen: also von oben nach unten Unterhemd, Unterhose, Socken, Hose oder Rock, Shirt. Wichtig ist allerdings mit dem Kind zu üben, dass vor dem Anziehen der Schlafanzug ausgezogen werden muss.
Es ist wichtig, zu loben, aber Vorsicht: manche Kinder reagieren auf sehr viel Lob bzw. sehr viel Aufmerksamkeit sehr schnell mit unerwünschtem Verhalten, weil sie mit sehr viel Aufmerksamkeit und Lob nicht umgehen können (ja, auch wenn die Kinder schon aus dem Krankenhaus direkt nach der Geburt in die Familie kamen und also eigentlich keine negativen Erfahrungen gemacht haben). Lieber ein herzliches „Gut gemacht!“ und eine Umarmung oder so, das bringt oft viel mehr.
Hinsichtlich des mangelnden Gefühls für Zeit habe ich bei meinen Kindern mit FASD die Erfahrung gemacht, dass es keinen Sinn macht, Wörter wie gleich, dann, später zu verwenden, weil diese Wörter zu diffus sind. Konkrete Zeitangaben wie z.B. „In 10 Minuten musst Du Dich anziehen“ oder „Du darfst noch 15 Minuten (nicht: eine viertel Stunde!) spielen“ sind hilfreicher. Diese Zeitvorgaben müssen aber auch eingehalten werden. So besteht die Möglichkeit, dass die Kinder ein gewisses Zeitgefühl entwickeln (erfolgreich erprobt an 3 Kindern).
Pflege- und Adoptivmutter GM:
Die Struktur im Alltag regelt das Zusammenleben der Familien. Menschen mit FASD sind orientierungslos im Alltag, weil sie sich nicht gut motivieren und strukturieren können. Struktur ist der Kleber der den Alltag der Menschen mit FASD zusammenhält. Wiederholungen stetig helfen auch den Alltag zu strukturieren und kann auch die Transition erleichtern.
Pflegeschwester SH:
Struktur im Alltag ist wichtig, ich selbst bin aber immer auch ein Freund davon, Fünfe gerade sein zu lassen. Im Umgang mit Menschen mit FASD ist es die Mischung, auf die es ankommt. Die Struktur, das sind in unserer Familie klare Ankerpunkte und Regeln, die nicht diskutabel sind. Sie stehen fest, ohne Wenn und Aber. Z.B. nach dem morgendlichen Aufstehen werden die Zähne geputzt, Haare gekämmt und wir ziehen uns an. Das ist morgendliche verlässliche Struktur. Hat das Kind morgens vor der Schule keinen Appetit, muss es nichts essen, sondern bekommt eben etwas mehr Essen mit in die Schule (unsere Kinder werden teilweise ab 6:30 abgeholt, da muss man nun wirklich noch keinen Hunger haben). Letzteres ist dann diskutabel. Mittags geht es weiter: Die Struktur ist: Es gibt Mittagessen und wir essen gemeinsam. Nicht zu diskutieren. Diskutabel ist aber, dass das Kind auch mal aufstehen darf, weil wir den Bewegungsdrang unserer Kids kennen. Diskutabel ist auch, ob aufgegessen wird oder nicht. Nicht diskutabel ist: Es wird alles, was zum jeweiligen Zeitpunkt noch unbekannt ist, einmal probiert. Die Probiergröße kann das Kind selbst wählen. Mag es ein Lebensmittel oder Gericht nicht, ist das wiederum in Ordnung.
Im Alltag gibt es dann weitere, individuelle Regelungen, je nachdem, wie verantwortungsbewusst und reif das Kind mit FASD ist oder eben nicht. Meine jüngste Schwester hat mit 8 Jahren absolut kein Gefahrenbewusstsein und darf daher noch nicht alleine zum nahegelegenen Spielplatz. Da ist die vorgegebene Regelung etwas enger, als bei einem Kind, welches z.B. an einer Ampel stehenbleibt.
Meiner Erfahrung nach haben meine Geschwister mit FASD auch ganz unterschiedliche Ansprüche an eine Struktur. Das eine Kind braucht sehr strenge Regeln und klare Grenzen, um sich wohlzufühlen. Das nächste braucht kaum Regeln, weil es sich sowieso am liebsten zurückzieht und aus Erwachsenensicht keinen Blödsinn macht, sondern einfach nur spielt und Pflichten, wie z.B. Hausaufgaben oder dem Kümmern um ein Haustier, eigenständig nachkommt. Beim wieder nächsten muss man hingegen bei Pflichtaufgaben eine Struktur vorgeben, z.B. nach der Schule erst direkt die Hausaufgaben gemeinsam machen, dann Freizeit. Das erspart viel Stress und Diskussion. Auch hier gilt: Die Struktur muss zur Familie und zum Kind mit FASD passen, keine Regel passt für alle gleichermaßen.
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Dipl. Soz.-Päd. (FH) Jana Goette, Deutsches FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern, LMU Klinikum München
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Pflege- und Adoptivmutter GM:
Sozialverhalten ist für Menschen mit FASD ein Buch mit 7 Siegeln. Wenn sie kaum Empathie zeigen können, wie können sie sich sozial verhalten. Hier müssen die Bezugspersonen immer wieder wiederholen, wie das ist mit dem Verhalten in den Situationen. Sie müssen lernen mitzufühlen, wie man Kontakt aufnimmt, wie man sich verhält im sozialen Kontext. Dieses ist für die Bezugspersonen eine Mammutaufgabe, wo Ausdauer gefordert ist und keine Frustration, wenn der Mensch mit FASD sich wieder nicht korrekt in der Situation verhält. Manchmal hilft nur Humor.
Pflege- und Adoptivmutter KL:
Bei impulsivem Handeln des Kindes kann es helfen, paradox zu reagieren, besonders in immer wiederkehrenden Situationen wie (extremen) Beschimpfungen etc., in denen sich die Bezugspersonen auf Grund der Häufigkeit irgendwie machtlos/hilflos fühlen. Das Kind erwartet bzw. provoziert ja die Reaktion der Bezugsperson. Wenn man nun statt der gewohnten Reaktion (Reflektieren, Sanktionieren etc.) paradox reagiert, nimmt man der Situation u.U. das negative. Beispiel: statt auf die Beschimpfung zu reagieren, sich zum Fenster drehen: Schau mal, was sitzt denn da auf der Wiese? Oder ähnlich. In den meisten Fällen reagiert das Kind darauf und der Stress ist erstmal vorbei. Später kann man dem Kind dann nebenbei sagen: Du, übrigens, ich bin keine blöde Kuh. Allerdings verlangt dieses Handeln den Bezugspersonen viel Kraft ab. Man brodelt noch innerlich, aber das Kind hat den Stress deswegen schon längst vergessen.
Als Bezugsperson ist es wichtig, abends positiv auf den Tag zurückzublicken. Wenn man gemütlich auf dem Sofa sitzt, die Kids im Bett sind: was hat mein Kind heute gut gemacht? Und das muss nichts Großes sein. Vielleicht hat es heute beim Eindecken das Besteck richtig auf den Tisch gelegt. Oder es hat die Schuhe selbständig angezogen. Viele „kleine“ positive Dinge werden im Alltag oft übersehen oder für selbstverständlich genommen, aber für Kinder mit FASD sind sie eine tolle Leistung.
Verständnis und Hilfe kann man auch in Selbsthilfegruppen und Gesprächskreisen bekommen. Hier sitzen alle Teilnehmenden im gleichen Boot. FASD Deutschland e.V. hat neben einer Liste der Selbsthilfegruppen auch eine Liste von Ansprechpartnern auf der Homepage, an die man sich bei Fragen telefonisch und per E-Mail wenden kann.
Pflegeschwester SH:
Sozialverhalten ist sicher eines der schwierigsten Themen für Geschwisterkinder. Hat ein gesundes Geschwisterkind eine Schwester oder einen Bruder mit FASD, ist mit besonderen Auffälligkeiten zu rechnen und dem gesunden Kind wird oft extrem viel Rücksichtnahme abverlangt. Dabei spiegelt sich mangelndes Sozialverhalten beim Kind mit FASD, wenn auch unbeabsichtigt, in vielen Alltagssituationen wider. Kindern wird beigebracht, zu teilen. Bietet das gesunde Geschwisterkind z.B. Gummibärchen an, ist es normal, sich ein paar zu nehmen. Ein Kind mit FASD nimmt tendenziell eine Hand voll, ohne Rücksicht. Das ist nicht immer und bei jedem so, aber ein in Variation oft erlebtes Beispiel. Weitergehend zeigen Kinder mit FASD, die selbst besonders gierig erscheinen, kaum den Willen, selbst zu teilen oder etwas abzugeben.
Dann gibt es das genaue Gegenteil. Manche Kinder mit FASD sind so leicht zu beeinflussen, dass sie alles tun, um zu gefallen. Das birgt die Gefahr, dass Kinder mit dieser Eigenschaft mit dem Hinweis auf „lieb sein“ vieles tun, was sie eigentlich nicht wollen und wo sie lernen müssen, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen.
Mit beiden Ausprägungen muss man als Geschwisterkind unterschiedlich umgehen. Ist man als Geschwisterkind selbst noch Kind, ist das natürlich schwieriger, weil man sich selbst unfair behandelt fühlt und nicht immer versteht, warum das Kind mit FASD einem etwas wegnimmt oder nicht teilen will. Ist man als Geschwisterkind bereits erwachsen, sollte man vor allem leicht beeinflussbare Persönlichkeiten dahingehend stärken, dass sie sich selbst trauen, auch mal nein zu sagen und dass es okay ist, wenn es das tut, was ihm selbst gefällt. (Hier ist natürlich der Grad der Komplexität zu beachten: z.B. Das Kind darf Mama und Papa „traurig“ machen – nicht dadurch, dass es Blödsinn macht, aber z.B. dadurch, dass es sagt, dass es lieber den grünen Pulli statt des pinken Pullovers anziehen will. Das fühlt sich für ein sehr beeinflussbares Kind bereits danach an, die Eltern / Pflegeeltern zu enttäuschen.)
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Pflege- und Adoptivmutter GM:
Komorbiditäten sollte man als Bezugspersonen unbedingt mitberücksichtigen. Viele Komorbiditäten, wie ADHS, Bindungsstörungen, Trauma, Autismus sind zwingend behandlungswürdig. Nur weil eine Diagnostik FASD erfolgt ist, kann man die Komorbiditäten nicht ausschließen aus der Behandlung. Bei Trauma gehört aus meiner Sicht eine an den Menschen mit FASD angepasste, zertifizierte Traumatherapie unbedingt verordnet.
Pflegeschwester SH:
Über Komorbiditäten informiert zu sein, hilft dem Geschwisterkind zu verstehen, dass gewisse Handlungen, Reaktionen und Verhalten im Alltag mit einer FASD zusammenhängen. Gerade für jüngere Geschwister kann so vereinfacht erklärt werden „Das kommt durch die FASD“. Allerdings birgt es gleichermaßen die Gefahr, jegliches Verhalten mit dieser Aussage zu entschuldigen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, müssen Komorbiditäten nicht nur bekannt sein, sondern auch in Therapien mit behandelt werden.
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Dr. med. Carmen Parisi, Deutsches FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern, LMU Klinikum, München
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Pflege- und Adoptivmutter GM:
Medikamente sind bei vielen Menschen mit FASD überaus hilfreich um sich zu strukturieren, um Schlaf zu bekommen. Häufig benötigen die Menschen mit FASD mehr Medis, wie normal benötigt, weil der Stoffwechsel ein anderer ist.
Pflege- und Adoptivmutter KL:
Wenn ärztlicherseits Medikation für das Kind empfohlen wird, sollte man dies nicht grundsätzlich ablehnen („Ich stopfe mein Kind nicht mit Chemie voll!“). Wir haben auch lange gedacht, es geht doch ohne. Bis uns unsere damalige Kinderärztin (Spezialistin für ADHS) fragte: „Wollt ihr eurem Kind wirklich die Chance nehmen, lernen zu können?“. Daraufhin haben wir nach kurzer Bedenkzeit zugestimmt, es zumindest zu probieren. Man darf keine Wunder erwarten, und auch bei uns ging der erste Versuch schief (zu kurze Wirkdauer, langer rebound). Nach einer Pause starteten wir den 2. Versuch, nun mit einem anderen Medikament. Und schon am ersten Tag sahen und merkten wir die positive Wirkung: unsere Tochter (FAS und ADHS) konnte viel länger sitzen bleiben, sich viel länger konzentrieren, sie war ausgeglichener, weil sie Außenreize besser filtern konnte usw. Natürlich war sie nicht plötzlich gesund; auch mit Medikation wandelt sich kein IQ 68 in einen IQ 95 😉. Aber sie konnte und kann viel besser im Alltag bestehen. Aus dieser Erfahrung stimmten wir der Medikation bei unseren beiden Jungs (FAS, Asperger und FAS, PTBS) sofort zu.
Pflegeschwester SH::
Medikamentöse Behandlung halte ich unter gewissen Umständen für sinnvoll. Ich bin dagegen, Kinder ruhigzustellen, wenn sie aufgrund ihres FASDs oder aufgrund von Komorbiditäten schlicht hibbelig sind. Wenn jedoch ein Medikament verabreicht wird und das Kind selbst kommuniziert, dass es ihm durch die Einnahme besser geht, kann ich medikamentöse Behandlung befürworten. Insbesondere befürworte ich sie, wenn sie hilft, Gewaltausbrüche sowie Selbst- und Fremdgefährdungen zu reduzieren.
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Dipl.-Psych. Gela Becker, FASD Fachzentrum, Evangelischer Verein Sonnenhof, Berlin
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Pflege- und Adoptivmutter KL:
Für Therapien gilt: so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. Wichtig ist neben mindestens einem Tag Pause zwischen verschiedenen Therapien, dass die Therapeut*innen auch miteinander im Gespräch sind, so dass der Therapieansatz der Logopädie z.B. nicht durch die Therapieeinheit der Ergotherapie zunichte gemacht wird.
Aus meiner Erfahrung kann auch Neurofeedback hilfreich sein, das einige Ergotherapeut*innen mit anbieten. Hierbei werden per EEG-Ableitung die Gehirnströme am PC dargestellt. Es können verschiedene Hirnareale angesprochen werden, z.B. für Konzentration oder für Sozialverhalten. Patient*innen lernen, z.B. ihr Verhalten zu steuern, indem sie eine sofortige Rückmeldung (Feedback) über ihre Aktionen erhalten, z.B. können sie kurze Filme schauen, und nur wenn sie entspannt sind, wird der Film in normaler Qualität sichtbar, ansonsten erscheinen graue Flächen, die sich je nach An- bzw. Entspannung vergrößern oder verkleinern. Die Verordnung und Abrechnung läuft über ein normales Ergotherapie-Rezept, auf dem Neurofeedback mit vermerkt wird.
PäPKi® hat bei einem unserer Kind auch geholfen. Es steht für ein ganzheitliches Konzept, das auf einer Förderung der Bewegungsentwicklung des Kindes aufgebaut ist. Fehlende oder mangelhaft durchlaufene neuromotorische Reifungsprozesse werden durch gezielte Bewegungsübungen nachgeholt. Das Kind erwirbt so nach und nach eine stabile Grundlage für seine weitere, nicht nur motorische, Entwicklung.
Außerdem haben wir positive Erfahrung mit der sensorischen Integrationstherapie: Kinder mit FASD sind oft reizüberflutet. Sie können Sinneswahrnehmungen nicht filtern; es stürmt alles auf einmal auf sie ein. Sensorische Integration kann helfen, diese Reize besser zu verarbeiten und damit zielgerichtet darauf zu reagieren. In der Therapie können die Kinder in alltagsnahen Spielsituationen lernen, ihre motorischen und emotionalen Handlungen besser an die Umwelt anzupassen.
Pflege- und Adoptivmutter GM:
Eine nicht-medikamentöse Behandlung ist bei einigen Kindern durchaus möglich, jedoch sollte man die Möglichkeit, dass es Medikamente gibt, nicht vergessen. Einige Menschen mit FASD, die es ohne Medikamente bis ins Erwachsenenalter geschafft haben, können dann doch Psychopharmaka benötigen.
Pflegeschwester SH:
Ich bin grundsätzlich dafür, es immer erst ohne Medikamente zu versuchen. Es gibt viele therapeutische Maßnahmen, die einem Kind mit FASD Sicherheit, Stabilität und einen Rahmen geben, um Dinge auszuprobieren, zu lernen. Es kann nerven, wenn das Kind mit FASD beim gemeinsamen Mittagessen ständig herumwibbelt und Getränke umstößt. Im Alltag kann die Energie eines Menschen mit FASD aber so ansteckend sein, dass die Geschwister gemeinsam toben und spielen, sich auspowern. Meiner Einschätzung nach spielen die Erwartungshaltung der Erwachsenen und die Erleichterung für das Kind mit FASD die wichtigste Rolle. Erwachsene sollten nicht erwarten, dass Kinder mit FASD (und auch ohne) stets still sitzen und ruhig spielen. Kinder müssen toben und wild sein. Kann sich das Kind aber unter keinen Umständen auf nicht-medikamentöse Behandlungen konzentrieren, nicht, weil es nicht will, sondern weil es das einfach nicht schafft, können Medikamente helfen. Ansonsten befürworte ich: Viel Verständnis, Geduld und eine Betrachtung mit etwas gedanklichem Abstand, auch unter denjenigen, die die jeweilige Maßnahme wie Ergotherapie, Logopädie u.ä. mit dem Kind durchführen.
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FAQs
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Pflege- und Adoptivmutter KL:
Beim Umgang mit Taschengeld darf man trotz aller Problematik auch etwas gechillter sein. Es ist Taschengeld, dass der/die Jugendliche für seine/ihre persönlichen Wünsche ausgeben darf (solange nichts Illegales gekauft wird). Eine wöchentliche Einteilung ist sehr gut, dann ist die Zeit bis zum nächsten Geld nicht so lang. Die meisten bekommen ihr Taschengeld montags. Manchmal ist es sinnvoll, es freitags auszuzahlen, damit es vielleicht für Kino oder Disco am Wochenende reicht.
Wir haben frühzeitig angefangen, unseren Kindern den Wert des Geldes bewusst zu machen. Wir haben z.B. 25 2-Euro-Münzen auf den Tisch gelegt und daneben einen 50-Euro-Schein, dann gefragt, was mehr Geld ist. Lange meinten die Kinder, die Münzen wären vom Wert her höher. Es hat Geduld und viel Zeit gekostet, aber letztendlich hatten wir damit Erfolg.
Pflege- und Adoptivmutter GM:
Die Schere zwischen Kalendarischem Alter und Entwicklungsalter ist weit offen. Einerseits beginnt der Lösungsprozess, andererseits sind sie noch im Kleinkindalter. Hier gilt es genau hinzuschauen, was kann zugelassen werden, damit die Entwicklung voranschreitet, und was ist ein absolutes No Go.
Pflegeschwester SH:
Die Pubertät verbinde ich nicht nur mit dem Austesten von Grenzen, dem eigenständigen Einkaufen gehen oder sich verabreden, sondern bei Mädchen auch mit der einsetzenden Periode und den wachsenden Geschlechtsmerkmalen. Diese Themen sollten unbedingt offen angesprochen werden dürfen. Da Kinder mit FASD oft dazu neigen, jedwede Art Frage auch laut in unpassenden Momenten oder an unpassenden Orten zu stellen, können kleine Kniffe im Alltag helfen. Wir haben z.B. Karten mit Fragezeichen parat. Stellt das Kind an der Kasse im Supermarkt eine Frage zu seiner Blutung, kann die Karte ausgehändigt werden, und die Frage wird auf später zuhause vertagt. Das Kind hat durch die Karte die Bestätigung: Ich habe deine Frage gehört, wir besprechen das noch – nur nicht jetzt. Je nachdem, wie offen der Umgang mit dem Thema Pubertät und Sexualität ist, kann auch ein gemeinsamer Besuch beim Frauenarzt stattfinden. Entweder nur zum Gespräch, oder aber auch, um dem Kind – aus gewisser Entfernung, nicht aus Arztposition – zu zeigen, so läuft es ab, wenn man als Frau zum Frauenarzt muss. Das ist nichts Schlimmes. Das sollte aber individuell und nach Reife des Kindes entschieden werden. Ebenso sollte man dem Kind die Wahl zwischen männlichem und weiblichem Arzt lassen und nicht davon ausgehen, dass der Arzt, dem man selbst vertraut, auch der / die beste für das Kind mit FASD und mit ganz eigenen Sorgen ist. Als Schwester habe ich die meisten Fragen immer sehr offen, in einfacher Sprache beantwortet. Das Wichtigste ist meiner Einschätzung nach nichts zu tabuisieren.
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Dipl. Soz.-Päd. Gisela Michalowski, FASD Deutschland e.V., Lingen
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Pflege- und Adoptivmutter GM:
Helfersysteme, da wäre zunächst Hilfe zu Erziehung nach § 27 SGB VIII beim Jugendamt zu nennen, das können nach 27.3. pädagogische oder therapeutische Hilfen sein, aber auch eine Schulbegleitung, Inklusionhilfe etc.
Ein weiteres Hilfesystem bieten die Leistungen der Pflegekasse, wie z.B. Betreuungs- oder Entlastungsleistungen, Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege ab Pflegegrad 1.
Das beste Hilfesystem sind Freunde und Familie, die flexibel unterstützen können.
Pflegeschwester SH:
Helfersysteme fassen fachliche, finanzielle und freundschaftliche Unterstützung zusammen. Jeder dieser drei Punkte ist für sich genommen wichtig. Menschen, die ein Kind mit FASD direkt unterstützen, unterstützen durch Regelmäßigkeit auch das Sicherheitsgefühl des Kindes. Die Schulbegleitung, das Gespräch mit einem Therapeuten, etc. sind sichere Räume außerhalb der Familie. Es ist wichtig, dass die Eltern Freunde in ihrem Helfersystem haben, damit sie nicht zu viele Alltagssorgen mit einem nicht betroffenen Kind besprechen. Hier besteht sonst die Gefahr, dem gesunden Kind zu viel zuzumuten, da es bereits im Alltag sehr viel Rücksicht auf das Geschwisterkind mit FASD nehmen und Verständnis zeigen muss.